Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter empfehlen
Neuentdeckung einer jung verstorbenen afroamerikanischen Autorin
Diane Oliver: Nachbarn. Storys. – Erzählungen, 2024. – 301 Seiten
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14 Kurzgeschichten der 1966 mit 22 Jahren früh verstorbenen Autorin wurden in einem Band herausgegeben und führen mitten hinein in die Südstaaten der 60er Jahre in den USA, eine Zeit der Rassentrennung, der Diskriminierung und Bürgerrechtsbewegung. Sie lassen teilhaben an rassistischen Erfahrungen der Protagonist/innen: Eltern, die ihr Kind als einziges auf eine Schule mit Weißen schicken, Hausangestellte in demütigenden Abhängigkeitsverhältnissen von Weißen oder ein Paar, das nach Übergriffen im Wald lebt und einen abgrundtiefen Hass entwickelt. Die Geschichten kreisen um politisch zementierte Gesellschaftsstrukturen, ungerechte Verhältnisse und Alltagssorgen, Machtgefälle und Beleidigungen, Träume und Hoffnungen, Aufbegehren und Konsequenzen, persönliche Schmerzen und Verzweiflung. Diane Oliver erzählt in einer poetischen Sprache, die ihre Leser/innen direkt anzusprechen und zu berühren vermag.
Wunderbar, dass diese Stories nach 60 Jahren in einer sehr guten Übersetzung dem deutschsprachigen Publikum zugänglich gemacht werden. Empfohlen!
Tanja Schleyerbach
Ein Journalist stellt die „Aalfrage“
Svensson, Patrik: Das Evangelium der Aale. – Debütroman, 2020. – 253 Seiten
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Sucht man Aale auf den Listen der beliebtesten Tiere, wird man sich schwertun. Aale treten hier nicht in Erscheinung, woanders verschwinden sie: in den Meeren, an den Küsten, auf den Speisekarten der Länder, die traditionell mit der Aalfischerei verbunden waren. Patrik Svensson widmet dem rätselhaften Tier seinen Debütroman von 2020 und würdigt den Aal als ein Mysterium, das den Menschen schon mindestens seit der Antike beschäftigt.
Aufgegliedert in 18 Kapitel erzählt der schwedische Journalist die Geschichte der biologischen Erforschung des Aals von Aristoteles über Freund – der als neunzehnjähriger ausgerechnet das Geschlecht des Aals finden sollte – bis in unsere Zeit. Er erzählt uns eine Kulturgeschichte des Aals, der mit dem Menschen über Mythen, Kunst und Religion aber auch über traditionelle Fischerei und Esskultur verbunden war und (noch) ist. Und schließlich verknüpft Svensson die Geschichte des Aals mit seinen ganz persönlichen Erinnerungen an seinen Vater.
Mit seinem Debüt ist dem Autor eine poetische Verbindung von Sachbuch und Memoiren gelungen. Erstaunliche Geschichten treffen auf die existentiellen Fragen des Seins. Absolut lesenswert.
Argiro Mavromatis
Roadtrip im jüdischen Mikrokosmos trifft Fantasie und Sprachfreude
Yaniv Iczkovits: Fannys Rache. Die Vergeltung der Mende Speisman durch die Hand ihrer Schwester. – Roman, 2024. – 604 Seiten.
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Russland 1894. Mende Speisman lebt mit ihrer Familie in einem jiddischen Schtetl. Als sie von ihrem Mann verlassen wird, bleibt sie depressiv zurück. Ihre Schwester Fanny ist keine gewöhnliche Frau und erlernte bereits als Kind das Schächten. Sie beschließt, dem Leiden ihrer Schwester ein Ende zu setzen und von ihrem nach Minsk verschwundenen Schwager den Scheidebrief einzufordern. Zunächst begleitet von dem verstummten Fährmann und Soldaten Cicek, stoßen bald weitere interessante Charaktere dazu. Ein Schlamassel jagt das nächste und die sonderbare Reisegesellschaft zieht nicht nur eine Blutspur hinter sich her, sondern auch die Aufmerksamkeit der Geheimpolizei auf sich. In 12 Teilen (jedem ein passender Linolschnitt voran) werden die Figuren und Erzählstränge zu einem Schelmenroman in der Tradition Scholem Alejchems verwoben, der an Originalität, Fabulierlust und Sprachfreude seinesgleichen sucht. Immer wieder sind jiddische Worte eingeflochten, so dass es sehr authentisch und nah dran wirkt. Ich kann mich der FAZ nur anschließen: "Ein komplexer, sehr überzeugender Roman mit mythologischen Zügen".
Fleur Hummel
Dieses Vorstadt-Drama liest sich wie ein softer Psychothriller!
Ashley Audrain: Das Geflüster. Niemand hat es gesehen. Doch alle haben etwas gehört. – Roman, 2024. – 349 Seiten
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Obwohl es ein Gesellschaftsroman ist, der in erster Linie die unterschiedlichsten Arten der Mutterschaft unter die Lupe nimmt und in zweiter Linie das verlogene Miteinander in einer Nachbarschaft, hat es sich für mich wie ein Thriller angefühlt. Die Spannung dafür war auf jeden Fall da!
Ein wirklich gutes Buch, dass sich flüssig durchlesen lässt.
Katrin Grießinger
Zum Welt-Alzheimertag am 21. September
Tiefgründige, ernsthafte und berührende Komödie
Die Vergesslichkeit der Eichhörnchen. – Regie: Nadine Heinze und Marc Dietschreit. – 1 DVD, 2020. – 139 Minuten
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Marija aus der Ukraine kümmert sich, um Geld für ihre Familie zu Hause zu verdienen, in Deutschland rund um die Uhr um den an Demenz erkrankten Curt, der sie sukzessive für seine verstorbene Frau Marianne hält und dadurch zunehmend aufblüht. Ihr Kind hat sie bei ihrer Mutter in der Ukraine gelassen, und diese Entscheidung bricht ihr immer wieder fast das Herz. In die Quere kommen ihr bei der Pflege Curts Eigenwilligkeit sowie seine zwanghaft kontrollsüchtige Tochter und später auch sein Sohn, der ein aufdringliches Interesse an ihr entwickelt. Mitten in dieser dysfunktionalen Familie besteht Marija viele Herausforderungen, und nach und nach erfahren die Zuschauenden, was die tiefer liegenden Gründe für das Verhalten der verschrobenen Figuren sind.
Trotz einem etwas überzeichneten Ende wirklich großes Kino: einfühlsam, unterhaltsam, und berührend.
Tanja Schleyerbach
Science-Fiction in der besten Tradition des Genres und doch ganz anders
Cixin Liu: Die drei Sonnen. – Science-Fiction Roman, 2016. – 591 Seiten
Titel verfügbar? Reading Challenge - RTRC24 500 Seiten
In den Wirren der Kulturrevolution startet die chinesische Regierung ein geheimes Forschungsprojekt mit dem Ziel extraterrestrisches Leben zu finden. Als die Kontaktaufnahme zu Außerirdischen schließlich gelingt, ist es die junge Wissenschaftlerin Ye Wenjies, die beschließt das Schicksal der Menschheit unwiderruflich zu verändern.
Was wie die klassische Handlung eines Science-Fiction Romans beginnt, wandelt sich schon bald in ein spannungsgeladenes und mysteriöses Szenario. Zunächst beschreibt Cixin Liu eine Gegenwart in der die physikalischen Gesetze nicht mehr gültig zu sein scheinen. Namhafte Wissenschaftler auf der ganzen Welt begehen Selbstmord. Physikalische Experimente liefern unerklärliche Ergebnisse. Die Grundfesten unseres Verständnisses der Welt und des Kosmos scheinen erschüttert.
Unter Rückgriff auf aktuelle physikalische Konzepte und Theorien löst Cincin Liu in seinem Roman scheinbare Paradoxien zu einem beeindruckenden und komplexen Handlungskonstrukt auf. Was zunächst skurril erscheint, entpuppt sich als Veranschaulichung eines physikalischen Möglichkeitsraums. Die Geschichte, die der Autor dabei entstehen lässt, ist gleichermaßen intelligent und überraschend.
Ein anspruchsvoller, wie auch faszinierender Auftakt einer originellen Science-Fiction Trilogie.
Jennifer Ludmann