Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter empfehlen

Philosophische und praktische Aufarbeitung des Abschiednehmens von der eigenen Mutter
Didier Eribon: Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben. – 2024. – 270 Seiten
Titel verfügbar?
Der durch Rückkehr nach Reims bekannt gewordene französischer Journalist, Autor, Soziologe und Philosoph Didier Eribon hat ein Buch über seine Mutter geschrieben, aber auch über das Altern, über den Umzug ins Pflegeheim und die möglichen Folgen für die Betroffenen, über Unfreiheit, über den letzten Umzug, die letzte Station, über Wut, Widerstand und Aufgeben, über Enge, Scham, Zeitmangel des Personals und Verlust der Selbstbestimmung. Genau seziert er das Verhältnis zu seiner Mutter, beschreibt ihre Biografie und versucht gleichzeitig, ihre Perspektive als pflegebedürftiger Mensch einzunehmen, wohl wissend, dass er daran scheitern wird. Eribon, der mit drei Brüdern aufwuchs und sich frühzeitig von seiner „Klasse“ distanzierte, als Homosexueller Nischen und Freiräume suchen musste und den Weg des Intellektuellen einschlug, schildert kein harmonisches Familiengefüge. Trotz des ihn abstoßenden Rassismus seiner Mutter nähert er sich ihr im Alter immer wieder an, besucht sie und verpasst den Moment ihres Sterbens. Erinnerungen an seine Kinder- und Jugendzeit werden bei den Besuchen wach. Zur Beerdigung geht er ebenso wenig wie zu der seines Vaters. Er setzt sich in dem Buch mit anderen Philosophen und Filmen zu philosophischen und praktischen Fragen des Alterns, der Pflege und Sterbens und seinem Trauerprozess auseinander und gibt viele weiterführende Literaturhinweise. Unsentimental und gleichzeitig berührend schildert er das Abschiednehmen eines Sohnes, der nach dem Tod der Mutter keiner mehr ist.
Tanja Schleyerbach
Actionreiche Dystopie
Thomas Thiemeyer: Es hätte sie nie geben dürfen. – 2024. – 413 Seiten – (Zefira ; 1)
Titel verfügbar?
Maddie ist ein Waisenkind und lebt mit ihren sieben Geschwistern bei ihrer Adoptivmutter, für deren Restaurant sie Essen in Neo-Hong-Kong ausliefert. Das kann durchaus gefährlich werden, denn in der Metropole kämpft jeder um seine Existenz. Auch Maddie kommt immer wieder in gefährliche Situationen – fast hätte sie ihr Leben verloren, doch sie kann sich selbst retten, oder war das die Stimme in ihrem Kopf? Hat sie die Kontrolle über ihren Körper verloren? Um all diese Fragen zu beantworten begibt sich Maddie auf die Suche nach ihrer Vergangenheit. Dass sie sich dabei mit dem größten Biotechkonzern der Stadt anlegt, ahnt sie noch nicht. Die Geschichte ist ein guter Mix aus Sci-Fi/Dystopie und ein bisschen Romance, die Action kommt aber meiner Meinung nach nie zu kurz, weswegen mir der Titel sehr gut gefallen hat!
Michelle Micic
Ein zerbrechliches Leben
Caroline Wahl: Windstärke 17. – 2024. – 253 Seiten
Titel verfügbar?
Es dauerte ein bisschen, bis ich durch die Bemerkung 22 Bahnen feststellte, dass in Windstärke 17 die Perspektive von Ida, bekannt als Schwester Tildas aus 22 Bahnen, dargestellt wird. Beide kommen aus demselben Mutterhaus. Zu dritt wohnten sie im traurigsten Haus der Fröhlichstraße in einer Kleinstadt. Ida ist inzwischen auf Rügen gestrandet, wo Marianne und Knut sie bei sich aufnehmen - einfach so. Ihr eine Heimat geben, sie versorgen und gleichzeitig in Ruhe lassen, sie verstehen und eine Struktur geben: abends jobbt sie in Knuts Kneipe. Immer wieder bekommt Ida Panikattacken. Ihr Wutklumpen im Bauch ist unvorstellbar groß. Sie konnte ihre alkoholkranke Mutter nicht retten, und mit Tilda hat sie inzwischen den Kontakt abgebrochen. Tilda hat ihr Leben im Griff. Das erträgt Ida nicht. Über ihre Mutter spricht sie in der falschen Zeitform, als ob diese noch lebte. Das Meer ist ihre Herausforderung, der sie sich immer wieder stellt gegen tosende Wellen, dem Tod näher als dem Leben. Das Schreiben wird ihr Ventil. Sie führt zerbrechliches Leben, das den Beschützerinstinkt bei anderen Protagonist/innen weckt. Leif tritt in ihr Leben, ein bekannter DJ. Und dann bekommt Marianne eine Krebsdiagnose. Idas Leben steht auf tönernen Füßen, aber sie findet immer besser Halt und Vertrauen. Am Ende besucht sie das Grab ihrer Mutter zusammen mit Leif. Immer mehr stellt sie sich ihren Wunden und tastet sich vorsichtig an deren Heilung heran.
Tanja Schleyerbach
Ausgezeichnet mit sechs Literaturpreisen!
Neige Sinno: Trauriger Tiger. – 2024. – 304 Seiten
Titel verfügbar?
Ist es ein Sachbuch oder ein Roman? Ich weiss es nicht, aber es ist auf jeden Fall ein Buch, dass man unbedingt gelesen haben muss: es ist die persönliche Lebensgeschichte der Schriftstellerin selbst. Eine Kindheit mit emotionalem Missbrauch und sexueller Gewalt, eingebettet in ein nach außen normales Familienleben, aufgebaut zwischen Lügen und Täuschungen.
„Ein erschütternd eindringliches und wichtiges Buch.“ Elke Heidenreich
„Das beste Buch, das ich seit langem gelesen habe.“ Annie Ernaux
Maike Schneider
Temporeicher Thriller mit intelligenten Twists
Sachs, Leon: Spurlos. – 2024. – 382 Seiten
Titel verfügbar?
Robin lässt zuverlässig Leute verschwinden, die aus ihrem eigenen Leben verschwinden müssen oder möchten. Sie und ihre Kollegen kümmert sich in ihrer Agentur um alles Notwendige und das ohne Spuren zu hinterlassen. Alles läuft gut, bis sie über ihr Notfalltelefon, dass seit drei Jahren nicht mehr geklingelt hat, live miterleben muss, wie zwei ihrer Schützlinge eiskalt hingerichtet werden.
Sie versucht noch herauszufinden, wie die Identität dieser Personen herausgefunden werden konnte und weshalb sie sterben mussten, als sie eine Drohung gegen alle bekommt, die ihr nahestehen. Gibt es ein Leck in der Agentur? Eins steht fest: Sie muss selber verschwinden!
Wirklich gutes Buch, dass sich schnell und gut durchlesen lässt.
Ein kompromissloser Einblick in psychische Krankheiten und ihren Umgang damit in der südkoreanischen Gesellschaft
Han Kang: Die Vegetarierin. – 2016. – 289 Seiten
Titel verfügbar?
Die Seoulerin Han Kang erhielt 2024 den Nobelpreis für Literatur. Ausgezeichnet wurde ihr Buch „Die Vegetarierin“ 2016 mit dem Man Booker International Prize (für sie und ihre Übersetzerin). Auch andere Bücher von ihr gewannen renommierte internationale Preise.
Kim Yong-Hye und ihr Ehemann führen ein unauffälliges Leben in Seoul. Er geht arbeiten, sie ist eine pflichtbewusste Hausfrau, Leidenschaft kommt in ihrer eintönigen Beziehung nicht vor. Als Yong-Hye den Entschluss fasst, sich ausschließlich vegetarisch zu ernähren und alle tierischen, auch teuren Produkte aus dem Haushalt entfernt, gleicht das einer Revolution, Vegetarismus gilt als subversiv in ihrem Land. Sie hatte einen Traum, und das muss als Erklärung des Umstiegs auf vegetarische Ernährung für ihren Mann und ihre Umwelt reichen. Ihr Mann hält sie für vollkommen verrückt und wird mit ihrer Entscheidung aus seiner angenehmen Langeweile gerissen. Ihre Familie reagiert verständnislos, Konventionen sind in Südkorea starr und streng. Die ganze Familie arbeitet daran, sie zum Fleischessen zu zwingen. Zudem fängt Yong-Hye an, sich als Pflanze fühlend und Träume für real haltend, sich außer Haus zu entblößen und ihren Mann gut sichtbar ohne BH zu einem Geschäftsessen zu begleiten. Als immer grotesker, abgründiger und kompromissloser schildert ihr Mann das Leben Yong- Hans: sie lehnt sich sukzessive gegen mehr Konventionen auf und rutscht immer tiefer in psychische Erkrankungen hinein, ohne sich helfen zu lassen.
Die teils verstörende Geschichte thematisiert Anorexia und andere psychische Krankheiten, gibt mit der Familiengeschichte einen Einblick in die südkoreanische Gesellschaft und wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt: Von ihrem Mann, ihrem Schwager und ihrer Schwester.
Surreal, abgründig und eindringlich
Tanja Schleyerbach